2006-11-11

Israel verteidigen - Anmerkungen zum 9. November

from never again [Bonn]

Der 9. November 1938 war wie ein Schicksalstag für all jene deutsche und europäische Juden, die sich bis dahin und in der Folgezeit nicht den Fängen des nationalsozialistischen Terrors hatten entziehen können. Denn er markierte nicht nur den vorläufigen Höhepunkt volksgemeinschaftlicher Selbstfindung, sondern gleichzeitig einen qualitativen Sprung des allgegenwärtigen Antisemitismus: Dessen eliminatorisches Wesen hatte sich bis 1933 vor allem anhand von Pogromen offenbart, als mehr oder weniger spontaner Ausdruck eines irrationalen Volkszorns gegen die Juden, den personifizierten Inbegriff des Anderen, des Feindes, des Ritualmörders, des Wucherers und Zersetzers, des Kommunisten und Kapitalisten in einer Gestalt. Aber bereits die umfassende Klassifizierung, Entrechtung und gesellschaftliche Marginalisierung der deutschen Juden in der Frühphase des Nationalsozialismus ließ erahnen, dass der zum deutschen Selbstverständnis geronnene Antisemitismus alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Die reichsweiten Novemberpogrome stehen symbolisch für den Wandel und die Modernisierung der massenmörderischen deutschen Raserei – vom richtungslosen, emotionalen Judenhass zum geregelten und bürokratisierten „Antisemitismus der Vernunft“. Statt als Schutzherr oder Nutznießer des Volkszorns trat der Staat nun als maßgeblicher Akteur und Vollstrecker der Vernichtung auf. Der 9. November 1938 war die quasi-plebiszitäre Legitimationsgrundlage der mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnenen und ab 1942 minutiös durchgeführten Ermordung der europäischen Juden.

Auschwitz hätte – jenseits von allen Versuchen, dem Unsäglichen einen Sinn zu geben – einige elementare linke Gewissheiten begründen müssen: Nämlich Antisemitismus nicht länger als einen „Antikapitalismus der dummen Kerle“ (August Bebel) zu verharmlosen, ihm somit gar noch einen eigentlich positiven Kern zuzusprechen, dem nur durch genug Agitprop zur Entfaltung verholfen werden muss, sondern nüchtern zu konstatieren, dass das, was in den Vernichtungslagern sich unendlich grausam vollzog, schon im geschmacklosen Witz und im haltlosen Ressentiment gegenwärtig ist: der gleichzeitige Wunsch und Wille, die Juden, alles Jüdische zu beseitigen. Aus diesen Gewissheiten hätte folgen müssen, dass die geschichtsphilosophischen Parolen des Klassenkampfes zusammen mit den Opfern des nationalsozialistischen Wahns zu Grabe getragen worden waren und dass es nie wieder einen positiven Begriff des Volkes oder sonstiger kollektiver, das Individuum restlos absorbierender Identitäten geben darf. Stattdessen stand schon bald die gedankenlose, dafür umso pathetischere Identifikation mit all jenen an der Tagesordnung, die sich im Kampfe opfern – warum und wofür war dabei erst einmal nebensächlich, denn das Mittel heiligte den Zweck. Dass grade die antisemitischen Banden panarabischer oder islamischer Couleur dem prototypischen deutschen und europäischen Nachkriegslinken bis in die Gegenwart als Projektionsfläche dienen, zeugt also von einer bruchlosen ideologischen Abdichtung gegen jede Erfahrung.

Die konsequente Befolgung des politischen Testaments des Nationalsozialismus wird heute in widerspruchsfreier Reinheit von Seiten der islamistischen Bewegungen vollzogen. Hier hat das Leben keinen individuellen Wert und Zweck, sondern einen höheren Sinn, der sich im Zweifelsfall darin offenbart, sich inmitten von Zivilisten in die Luft zu sprengen. Der Islamismus in Gestalt von Hamas und Hizbollah, der ägyptischen Muslimbrüder und des iranischen Präsidenten ist die Sakralisierung nationalsozialistischer Sinngebung und das Selbstmordattentat die zeitgemäße Form des antisemitischen Vernichtungswillens: Denn wenn auch der Djihad im Irak täglich dutzende Muslime tötet, so gilt er doch einer halluzinierten zionistischen Weltverschwörung und deren angeblichen Agenten, als welche sich die verschiedenen muslimischen Gruppen wechselseitig denunzieren. Das bedeutet, dass heute sowohl die Idee als auch die Praxis des „Antisemitismus der Vernunft“, der nicht weniger verlangt als die Vernichtung der Juden, sich hauptsächlich gegen Israel und den Zionismus richten, der Kampf gegen Antisemitismus sich also maßgeblich als Existenzkampf Israels vollzieht.

Ruft aber in Bonn ein linkes Bündnis unter dem Motto „Gedenken verteidigen“ zum 9. November auf, so erwähnt es diesen Existenzkampf selbstverständlich mit keiner Silbe. Angesichts der Tatsache, dass die gesellschaftlichen Bedingungen des Antisemitismus nicht beseitigt werden konnten, dass weiterhin die klaffenden Widersprüche zwischen den objektiven Möglichkeiten menschlichen Daseins und deren oft viel weniger als armselige Verwirklichung im Kapitalismus sich in der pathischen Projektion auf den verschworenen und mächtigen Juden – IsraÖL und USraÖL – ausdrückt, und dass zudem ein im positiven Sinne revolutionärer Zustand nicht absehbar ist, muss aber das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einher gehen mit dem Bekenntnis zu Israel, dem Staat gewordenen Garanten jüdischer Existenz und Selbstbestimmung. All die Parolen gegen Antisemitismus, die anlässlich symbolträchtiger Daten wie dem 9. November inflationäre Verwendung finden, sind vollkommen inhaltsleer und nutzlos, wenn sie von einer Solidarisierung mit dem tatsächlichen und tagtäglichen Kampf des israelischen Staates um sein Überleben absehen – und sind zudem unglaubwürdig, wenn sie, wie in Bonn, etwa von den Freidenkern kommen, die zusammen mit den Nationalbolschewisten vom Initiativ e.V. und der jungen Welt zur antizionistischen Avantgarde der hiesigen Linken gehören. Darüber hinaus verkennt der Anspruch einer Verteidigung dieses vorgeblich richtigen Gedenkens, dass eben das formelle, wirkungslose Lippenbekenntnis zur deutschen Vergangenheit heute zum Standardrepertoire einer sich antifaschistisch gerierenden Berliner Republik gehört. Die Verteidiger des konsequenzlosen Gedenkens tun letztendlich nichts anderes als die betroffen dreinschauenden und mahnenden Exponenten deutscher Politik: an die Vergangenheit erinnern, um dann moralisch gestärkt zum Alltagsgeschäft überzugehen – was nicht zuletzt heißt, einerseits als „Friedensmacht“ Urteile über die in den USA und Israel ausgemachten Kriegstreiber zu fällen und im Gegenzug Selbstmordattentate als Widerstand zu verharmlosen.

„Gedenken verteidigen“ muss implizieren, Israel zu verteidigen, vor allem gegen den permanenten Versuch der internationalen antizionistischen Querfront, dem jüdischen Staat seine Legitimität abzusprechen. Denn ein Gedenken an die Opfer des Antisemitismus ist sinnlos, wenn es nicht die Verteidigung objektiv notwendiger Schutzmaßnahmen für alle faktischen und potenziellen Opfer dieses gewalttätigen Wahns mit einschließt, zu denen letztendlich nur Israel gewillt ist.