2006-08-08

Antisemitische Amnesie

[from typoskript.net]

Angriff auf Israel


Am Sonntag, den 25. Juni 2006 gegen 5 Uhr 30 wurde Israel angegriffen. Bewaffnete Palästinenser der Hamas und des Popular Resistance Committees (PRC) drangen durch einen zehn Meter tiefen Tunnel unter dem Grenzzaun vom Gazastreifen zum Gebiet des Kibbuz Kerem Shalom auf israelisches Territorium vor, während zeitgleich Granatfeuer und Panzerabwehrraketen aus dem Gazastreifen ein Armeefahrzeug, einen Panzer und einen Wachturm der Israelischen Streitkräfte unter Beschuß nahmen. Zwei israelische Soldaten wurden getötet, vier verletzt, ein weiterer entführt.

Am Mittwoch, den 12. Juli 2006 gegen 9 Uhr 15 wurde Israel ein weiteres Mal angegriffen. Ein Kommando der Hizbollah überquerte die Grenze im Norden, griff aus einem Hinterhalt eine Routinepatrouille der israelischen Streitkräfte an, tötete acht Soldaten und verletzte weitere Soldaten und Zivilisten. Zwei Soldaten wurden entführt.

Damit mündet der Kampf um den jüdischen Staat, mithin um das Überleben der Juden im Nahen Osten, in einen neuen Krieg.

Dem vorangegangen war der monatelange Beschuss israelischer Dörfer und Städte durch palästinensische Qassam-Raketen. Neben der Hamas erwies sich gerade der bewaffnete Arm der Fatah-Partei des oft als „gemäßigt“ apostrophierten Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas als besonders aktiv. Derweil verfügt die Hisbollah im Libanon über noch weit modernere und zielgenauere Raketen, die – so die begründete Befürchtung – bis nach Tel Aviv und südlicher reichen könnten. Bislang gingen 3000 dieser Geschosse auf Israel nieder, täglich sind es mehr als 100. Dutzende israelische Zivilisten wurden bei diesen Angriffen bereits verwundet oder getötet.

Neue Codes

Nach den Angriffen auf Israel fiel es selbst notorischen „Israelkritikern“ schwer, diese antiisraelische Aggression zu leugnen oder wie gewohnt als Reaktion auf Israels Politik zu rechtfertigen. Vielmehr war offensichtlich, dass Israels Rückzug aus dem Südlibanon und dem Gazastreifen erst die Terrororganisationen zum Zuschlagen ermutigte. Die einseitigen, von israelischen Sicherheitsinteressen ausgehend beinahe waghalsigen Schritte wurden als Schwäche interpretiert. Hamas und Hisbollah begannen den Krieg mit Angriffen auf israelisches Territorium, mit der Ermordung und Entführung von IDF-Soldaten, während zuvor schon über Monate hunderte Raketen auf israelisches Kernland geschossen worden waren.

Aufgrund dieser Entwicklung war es für europäische Friedensfreunde und Nahostexperten zunächst problematisch geworden, den eigenen Lügen noch Glauben zu schenken, wo sonst Schlagworte wie „Besatzung“, „Unterdrückung“, „Mauer“ und „Siedlungen“ den antisemitischen Wahn so hermetisch abriegeln.

Die Medien verhielten sich einige Tage auffällig zurückhaltend; es gab einige Spekulationen, ob dieses Mal die Berichterstattung realitätsorientierter verlaufen könnte; von einem neuen öffentlichen Stimmungsbild war gar die Rede. Wer derartig hoffte, wurde bereits nach wenigen Tagen eines Schlechteren belehrt. Denn es gab keinen Meinungswandel, nur eine kurze Paralyse derer, die auf die ersten übermächtigen Bilder des Krieges warteten, die geeignet schienen, Ursache und Wirkung vergessen zu machen.

Die antisemitische Amnesie, die die offensichtlichen Ursachen des Krieges zu verdrängen und vergessen sucht, bewirkte schnell die Erlösung in den alten Wahn; das antiisraelische Koordinatensystem war bald schon wieder justiert. Neue Codes haben sich inzwischen in altem Geiste etabliert; „unangemessen“ und „maßlos“ heißt es nun, wenn Israel um sein Leben kämpft, „bedingungslos“ solle Israel die Waffen strecken. Nicht mehr ist vom Angriff auf Israel die Rede; vielmehr beginnen die Nachrichten stets mit Israels Militärschlägen, als seien diese die eigentliche Aggression, gefolgt von Bildern ziviler Opfer im Südlibanon, so als gäbe es nur diese, um, wenn überhaupt, beiläufig die Raketen auf Haifa noch zu erwähnen, als wären diese die zwingende, beinahe logische Konsequenz der israelischen Politik. So werden Kausalketten konstruiert, die auch schlichten Gemütern suggerieren, wie Gut und Böse zu scheiden sind.

So also wird Israel dämonisiert, sein Kampf ums Überleben delegitimiert und sein Vorgehen mit doppelten Standards gemessen: Während Hamas und Hisbollah einen Krieg gegen Israel und die Juden in toto führen, sind es allein die zivilen Opfer auf arabischer Seite, die zu immer neuer Empörung und zu andauernden Weltsicherheitsratssitzungen führen. Qana – mit gestellten Bildern und erlogenen Opferzahlen – wurde zum Fanal des antiisraelischen Furors, als ob die tatsächlichen zivilen Opfer dieses Krieges nicht tragisch genug wären. Die Terrorbanden, die ihre Stützpunkte und Raketenbasen absichtsvoll in libanesischen Wohngegenden aufbauen, wissen, dass sie jedes zivile Opfer auf arabischer Seite im medialen Krieg gegen Israel als Teilsieg verbuchen können.

Die jüngsten Ausgabe des Boulevardmagazins Stern stellt schon auf dem Titel die üblichen Icons zusammen – betender Jude, Felsendom, Mauer, Panzer, Davidstern – und verspricht Aufklärung über Israel und darüber, „was das Land so aggressiv macht“. Dazu heißt es im Leitkommentar: „Israel macht es seinen Feinden mal wieder leicht, es zu verurteilen, und seinen Freunden schwer, es zu verstehen.“ Womit die Freundschaft, seit langem schon nichts als rhetorischer Ballst, nivelliert erscheint. Zum Ausweis journalistischer Liberalität lässt der Stern Jürgen Trittin, dem notorischen Pazifisten, mit Michel Friedman solange diskutieren, bis beide sich – entsprechend in Szene gesetzt – lachend im Arm liegen. Wenn die Funktionäre der „Israelkritik“ und der „Israelsolidarität“ streiten, endet dies nicht im Zorn; hierzulande treibt man es nicht bis zur nötigen Konsequenz. Es endet in konsensualer Herzlichkeit und karnevalesker Fröhlichkeit. In Israel derweil herrscht Krieg.

Alte Bilder

Die neuen Codes vom „unangemessenen“ und „maßlosen“ Vorgehen der Isralis, die „bedingungslos“ die Waffen zu strecken haben, rekurrieren hierzulande auf alte Bilder. Denn auch das Vorgehen der Alliierten gegen Nazideutschland gilt heute als „unangemessen“. Im kollektiven Narrativ vom „maßlosen“ Bombenkrieg, welches an Dresden und Hamburg erinnert und von Coventry und Rotterdam nichts wissen will, glaubt man zu wissen, dass die alliierten Militäroperationen eben nicht die notwendigen Maßnahmen zum endgültigen und dauerhaften Sieg gegen den Nationalsozialismus waren. Vielmehr behauptet man zahllose alliierte Kriegsverbrechen, und zieht so die moralische Legitimität derer in Zweifel, die kamen, um Auschwitz zu beenden und das deutsche Morden zu stoppen. Da die wütenden deutschen Aggressoren am Ende als Verlierer dastanden, projizierten sie alsbald die eigene Bestialität auf die ehedem Angegriffenen. Der Aufrechung im Gefolge der deutschen Täter-Opfer-Umkehr folgt die Abrechnung: Wo von der Maßlosigkeit der militärischen Mittel derer die Rede ist, die den Angreifer besiegten, da ist das moralische Urteil bereits umgelogen.

Dass ein mörderischer Aggressor nicht einfach nur hinter die eigenen Landesgrenzen zurückgetrieben, sondern gänzlich zerschlagen werden muss, damit ein neuerlicher Krieg eben nicht nur eine Frage der Zeit ist, auch dies ist eine Lektion des II. Weltkrieges, die in Deutschland nicht gelernt werden wollte. Tief sitzt die Demütigung über den Verlust des „deutschen Ostens“, tief die Kränkung, dass die eigene autochthone Kultur durch Demokratisierung und Reeducation zivilisiert wurde, tief auch die Selbstverachtung, den westlichen Verlockungen von Coca-Cola bis Elvis Presley nicht ganz widerstanden zu haben. Im Gerede, dass Demokratie und liberale Rechtsstaatlichkeit, ergo moderne Zivilisation, im Nahen Osten nicht fruchten können, da sie mit der regionalen Kultur nicht kompatibel seien, klingt die Schmach an, selbst unfreiwillig in den Westen gezwungen worden zu sein. Deshalb auch ist der Nahe Osten eine Projektionsfläche für den Wunsch, dass die Bezwingung der Barbaren und deren Zwangsdemokratisierung nicht abermals gelingen möge.

Rackets und Raketen gegen Israel

Doch die Hoffnung, den antiwestlichen und antisemitischen Wahn im Nahen Osten zu brechen und eine umfassende Liberalisierung und Demokratisierung in Gang zu setzen, scheint sowieso unrealistisch. Israel konzentriert sich daher allein auf die Aufgabe, konkrete Bedrohungen zu erkennen, zu minimieren und weitestgehend auszuschalten.

Der sich schließende Sicherheitszaun um die palästinensischen Gebiete ist dafür ein Beispiel. Selbstmordanschläge sind damit unwahrscheinlicher geworden, auch wenn für sie mit deutscher Förderung im Judenmörderdrama „Paradise Now“ noch als „legitime Verzweiflungsakte“ geworben wurde. Derweil entwickelten sich die selbstgebauten, hundertfach auf Israel abgefeuerten Raketen zur wirkungsvollsten Waffe in den Händen palästinensischer Banden.

Dore Gold, Leiter des Jerusalem Center for Public Affairs und vormals israelischer Botschafter bei der UNO, erklärte wenige Tage vor Ausbruch des Krieges im Gespräch mit typoskript.net, dass allein die israelische Kontrolle des Jordantals, also des Gebietes zwischen Jordanien und der Westbank, verhindere, daß noch effizientere Raketen in palästinensische Hände gelangten:
Die jüngsten Anschläge in Jordanien zeigen, daß El-Kaida immer weiter Richtung Israel vorankommt. Sie bringen ihren Terror und ihre modernen Waffen mit. Sollte es El-Kaida gelingen, ungehindert den Jordan Richtung Westbank zu überschreiten, so werden wir in Israel mit einer noch viel schrecklicheren Bedrohung als der durch Qassam-Raketen konfrontiert.“

Diese Bedrohung existiert aber schon längst – im Libanon. Die libanesische Regierung hat die letzten Jahre nicht genutzt, eine Entwaffnung der Hizbollah und die Kontrolle des Südlibanon durch die reguläre libanesische Armee zu realisieren. Dies hatten UN-Resolutionen verlangt, auf die aber nur dann mit Nachdruck verwiesen wird, wenn sie nicht auf den Schutz sondern auf die Anklage Israels abzielen. Syrien und der Iran konnten die Hizbollah ungehindert aufrüsten.

Wenn dabei immer wieder auf die Ohnmacht der libanesischen Regierung verwiesen wird, so geht dies an der Realität vorbei. Ibrahim Mousawi, Chefredakteur der Hisbollah-Zeitung Al Ahed und Leiter des Fernsehsenders Al Manar, klärt im Interview mit dem Neuen Deutschland über das gute Verhältnis der Hisbollah zur libanesischen Regierung auf:
…die Hisbollah hat noch nie gegen die Regierung gearbeitet, schließlich stellen wir zwei Minister im Kabinett. Zudem gibt es eine Vereinbarung mit der Regierung, die besagt, die Hisbollah darf gegen Israel weiter kämpfen, bis die Shebaa-Farmen und die libanesischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen befreit sind. Diese Vereinbarung wurde beim Amtsantritt von Ministerpräsident Siniora und seinem Kabinett durch das Parlament ratifiziert. Es gibt also keine grundsätzlichen Differenzen.

Sicherheit für Israel

Was weder der Palästinenserpräsident noch die libanesische Regierung und auch nicht die EU oder gar die UNO schaffen konnten oder auch nur wollten – Sicherheit für Israel, müssen die Streitkräfte des jüdischen Staates nun im Alleingang realisieren. Dabei ist eines gewiß: Israel kann diesen Krieg nicht gewinnen. Es kann nur so weit wie möglich die militärischen Kapazitäten der Islamisten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zerstören, um sich für einige Monate, vielleicht für einige Jahre ein Mindestmaß an Sicherheit zu schaffen. Für Israel geht es – wie so oft – weniger um einen Sieg, sondern um die Abwendung einer Niederlage, die die Vernichtung bedeuten würde.

Die Bedingungen der Möglichkeit des sicheren Lebens in einem jüdischen Staat müssen immer wieder neu erkämpft werden. Der jüdische Sisyphos hat keine Wahl, als diesen Felsblock unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel er immer nur wieder herunterrollt. Albert Camus schrieb, daß „sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben“ den Sisyphos ausmachten, bei Homer schon hieß es, Sisyphos habe den Tod in Ketten gelegt. Israel müht sich, Hamas und Hisbollah in Ketten zu legen, jene also, die den Tod und nicht das Leben lieben und deshalb die Vernichtung der Juden, die ihnen als Inversion des eigenen Wahns erscheinen, herbeisehnen.

Diese Lösung ist keine Lösung, und es mag sogar wahr sein, daß Israels militärische Aktionen den Extremisten weiteren Zulauf bescheren, die Radikalisierung noch weiter vorantreiben. Doch bleibt Israel nichts anderes übrig; immer wieder ist es gezwungen, sich wenigstens die Luft zum Atmen erkämpfen, kann es doch die Islamisten gar nicht besiegen, wie es den antisemitischen Wahn nicht zerstören kann.

Zumindest kann Israel versuchen, den Wahnsinnigen die Waffen aus der Hand zu schlagen, und damit die von ihnen ausgehende Gefahr wenn nicht zu eliminieren so doch zu minimieren. Das Kalkül, dass nicht die Zahl der Extremisten sondern deren militärisches Potenzial entscheidend ist, veranlasste Verteidigungsminister Peretz zu der Ankündigung, den Libanon um zwanzig Jahre zurückzuwerfen. Die Steinewerfer der „Intifada“, die vor Kameras inszeniert vor allem die Fernsehbilder moralisch munitionierten, sind längst von den Raketenwerfern von Hamas, Hisbollah und anderen Rackets abgelöst. Schon brüstete sich der bewaffnete Arm der Fatah-Partei mit der Behauptung, chemische Kampfstoffe in ihren Qassam-Raketen einzusetzen, während der Iran durch die freundliche Bitte der UNO, wieder Inspektoren in den Atomanlagen zuzulassen, sich nicht übermäßig zu einem Entgegenkommen motiviert sieht. Nine Eleven war der Vorbote einer Zeit, da den Todfeinden der Moderne die Waffen der Moderne zur Verfügung stehen.

Dessen ist sich Israel bewusst.

Benjamin Weil
typoskript.net

[á la rechereche des temps modernes]